aktualisiert:
2. April 2007

 

 

 

 

 

 

Volltextsuche:

 

 

 


 

  Recht und Unrecht  

WasserInBürgerhand!

STZ 6.2.2006

 

Durch Privatisierung stellt sich
der Staat letztlich selbst in Frage

Fürsorgepflicht und Gewinnmaximierung schließen sich gegenseitig aus
- Plädoyer für einen umsichtigen Umgang mit hoheitlichen Aufgaben

Siegfried Broß
(Richter am Bundesverfassungsgericht)

 

Seit einigen Jahren wird die Privatisierung von Unternehmen der öffentlichen Hand, auch solchen, die Aufgaben der Daseinsvorsorge wahrnehmen, verstärkt umgesetzt. Die Privatisierung öffentlicher Unternehmen wie vermehrt auch öffentlicher Aufgabenbereiche der Hoheitsverwaltung bis hin zu solchen der Gefahrenabwehr soll, so wird argumentiert, den Menschen größere Freiräume nicht nur in wirtschaftlicher, sondern überhaupt in persönlicher Hinsicht eröffnen. Zugleich sollen die Kosten für die bisher in öffentlicher Verantwortung erbrachten Leistungen sinken und damit der Staatshaushalt entlastet sowie die Effizienz der Unternehmen erhöht werden.

Soweit ersichtlich, ist bis heute noch kein Versuch unternommen worden, den Wahrheitsgehalt solcher Auffassungen zu überprüfen. Allerdings fällt anhand der Erfahrungen des Alltags auf, dass kaum etwas billiger geworden ist. Man denke nur an die Müllabfuhr, die Versorgung mit Beförderungsleistungen oder die Lieferung elektrischer Energie. Lediglich das Telefonieren ist mit weniger Kosten als zuvor verbunden. Des Weiteren muss man fragen, ob die Versorgung mit bisher in öffentlicher Verantwortung erbrachten Leistungen nach der Privatisierung verlässlicher geworden ist oder ob nicht im Gegenteil das Leistungsvermögen und damit für viele Bereiche die Sicherheit für die Benutzer oder Verbraucher gesunken sind (Zusammenbruch von Stromleitungsmasten; großflächige Blackouts in den USA; marodes Schienennetz in Großbritannien).

Der Staat muss vor weiteren Schritten in Richtung einer Privatisierung von Bereichen, sei es der Daseinsvorsorge, sei es vor allem der Gefahrenabwehr, an seine Verantwortung erinnert werden, die ihm aus dem Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes erwächst. Diese Verantwortung verbietet es, dass sich der Staat zu der Wahrnehmung solcher Aufgaben privater Dritter bedient, auf die er keinen bestimmenden Einfluss hat und die er deshalb nicht so einsetzen kann, als ob er die Aufgabe noch in eigener Verantwortung erfüllen würde. Es geht nicht um Staatsdirigismus, sondern darum, vor einem gesamtverfassungsrechtlichen Hintergrund Kriterien für ein ausgewogenes Verhältnis zwischen staatlichem und privatem Sektor zu entwickeln, damit die Souveränität eines Staatswesens zum Schutz der ihm anvertrauten Menschen erhalten bleibt.

Gewinnmaximierung, die für jedes Unternehmen selbstverständlich legitim ist, und Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben schließen einander denknotwendig aus. Öffentliche Aufgaben sind im Gegensatz zu privatwirtschaftlicher Betätigung auf den Staat und die seiner umfassenden Fürsorge anvertrauten Menschen ausgerichtet. Diese unumstößliche Tatsache scheint weithin aus dem Blick geraten zu sein. Die gegenwärtige Entwicklung, die nachhaltig von der gemeinschaftsrechtlichen (EU) und der internationalen Ebene (IWF, WTO, Weltbank) geprägt wird, lässt eine Vielzahl von Problemen entstehen, ohne angemessene Lösungen anzubieten, und vermag dies letztlich auch wegen struktureller Defizite nicht zu leisten: Über die Frage der staatlichen Souveränität hinaus tut man sich schwer, noch tragfähige Ansatzpunkte für eine Selbst-, nicht für eine Fremddefinition eines Staatswesens zu finden. Insofern erfahren die Grundrechte in ihrer institutionellen Ausprägung insgesamt eine Gefährdung, nicht nur in ihrem subjektiven Gehalt.

Anders formuliert: wenn sich der Staat der Erfüllung öffentlicher Aufgaben dadurch entzieht, dass er substanzielle Teile des Gemeinwesens privatisiert und letztlich ungebunden durch private Dritte erfüllen lässt, dann entsteht die Gefahr, dass der Staat seine Macht zur Selbstdefinition verliert und sich letztlich selbst in Frage stellt. Wofür steht er noch, wenn er sich selbst eines großen Teils seiner Substanz begibt?

Es kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass mit der Privatisierung öffentlicher Aufgaben Korruption und Schattenwirtschaft wachsen. Sie führen schon jetzt weltweit zur Schwächung zahlreicher Staaten, weil notwendige Finanzmittel für eine stabile Infrastruktur und ausgewogene Gesellschaft verloren gehen.

Schon vor den Arbeitsmarktreformen war in Deutschland ein Ansteigen der Zahl der Arbeitslosen von 185 072 im Jahre 1971 bis zu 4 342 400 im Mai 2003 bei einem gleich bleibenden Rückgang der offenen Stellen in diesem Zeitraum von 648 084 auf 393 500 zu beobachten. Auch wenn man den Sondereinfluss der deutschen Wiedervereinigung außer Betracht lässt, verläuft die Entwicklung kontinuierlich, und eine Wende ist nicht zu erkennen. Das müsste genügend Anlass sein, verstärkt über die Auswirkung von Privatisierungsmaßnahmen auf das Beschäftigungsniveau nachzudenken und der Frage nachzugehen, ob es hier nicht Abhängigkeiten gibt.

Es ist unverkennbar, dass es diese gibt. Mit der Privatisierung und der Entlassung einer Aufgabe aus der öffentlichen Verantwortung geht häufig die Umwandlung regulärer Arbeitsverhältnisse in irreguläre einher. Mit der Privatisierung öffentlicher Aufgaben begibt sich der Staat zudem weithin jeder Lenkungsmöglichkeit.

Wettbewerb muss naturgemäß darauf ausgerichtet sein, einen Mitbewerber zu übertreffen und ihn letztlich bei eigenem Wachstum aus dem Wettbewerb zu verdrängen. Das heißt, dass in vielen Branchen eine Konzentration unausweichlich ist, damit aber die Abhängigkeit von einigen wenigen Anbietern begründet wird. Als Beispiel mag die Bahn dienen. Wenn es nur noch einen Anbieter für Lokomotiven oder Bahngleise gibt, ist der Spielraum der Deutschen Bahn AG als Nachfrager sehr überschaubar.

Ein weiterer Gesichtspunkt stützt diese Sicht: Nicht nur die Nationalstaaten, sondern auch die EU kommen nicht umhin, den Wettbewerb je nachdem mehr oder weniger intensiv zu kontrollieren. Eine solche Kontrolle setzt auf einer niedrigen Stufe bei Wettbewerbshandlungen wie Werbung an und mündet in die Kontrolle von mehr oder weniger vorteilhaften Unternehmenszusammenschlüssen ein. Widerspruchsfrei ist formal auch von daher die Privatisierungseuphorie jedenfalls nicht. Besonders deutlich wird dies, wenn infolge der Privatisierung staatliche Monopole durch private Monopole ersetzt werden.

Wenn sich der Staat immer mehr der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben durch Privatisierung entledigt, verliert er damit Handlungs- und Gestaltungsspielräume. Das bedeutet letztlich, dass er großenteils seine Politikfähigkeit einbüßt. Nicht der Staat bestimmt mehr die Richtlinien der Politik und die Entwicklung des Staatswesens und seiner Gesellschaft, sondern dies tun demokratisch nicht legitimierte Private. Diese kann er aber infolge der Privatisierung nicht mehr steuern, wenn er seine Nachfragemacht nicht in die Waagschale werfen kann. Mit der Privatisierung entzieht der Staat hunderttausenden, wenn nicht ein oder zwei Millionen regulären Arbeitsverhältnissen die rechts- und sozialstaatlich gesicherte Grundlage, wenn diese zu einer Auslagerung von Arbeitsplätzen in Billiglohnländer oder - im Inland - zu einem Arbeitsplatzsplitting in Minijobs oder gar zu illegalen Beschäftigungsverhältnissen führt. Er begibt sich damit nicht nur seiner Vorbildfunktion im Beschäftigungsbereich, sondern auch der stabilisierenden Wirkung für die gesamtwirtschaftliche Situation über die Nachfragemacht seiner Beschäftigten als Konsumenten. Dieser Doppeleffekt im Primär- und Sekundärbereich entfällt.

Letztlich wird der Staat erpressbar. Wenn etwa die Eisenbahn privatisiert und dann möglicherweise über die Börse undurchsichtigen Eigentümerstrukturen geöffnet wird, könnte der Staat mit seiner Volkswirtschaft schwer geschädigt werden, wenn etwa der Gesamtbetrieb für ein oder zwei Wochen ausfällt, und das gezielt. Das Gleiche gilt im Bereich der Energiewirtschaft. Des Weiteren verabschiedet sich der Staat mit der Privatisierung zahlreicher, zunehmend zahlloser öffentlicher Aufgaben auch aus dem Ausbildungs- und Nachwuchssektor.

Weithin aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden ist auch, welchen unvertretbaren Einfluss internationale Ratingagenturen auf die Güte eines Staatswesens nehmen. Wenn eine solche, weder demokratisch noch sonst unter übergeordneten Gesichtspunkten legitimierte oder gar kontrollierte Ratingagentur Deutschland abstuft, kostet dieses Vorgehen nicht den Finanzminister, sondern den Steuerzahler Milliarden von Euro. Man muss sich allen Ernstes fragen, ob es nicht hoch an der Zeit ist, hier energisch gegenzusteuern und durch ein Überdenken der undifferenzierten Privatisierung öffentlicher Aufgaben jedenfalls die Schranken aufzurichten, die national aber auch gemeinschaftsrechtlich noch möglich sind. Welche Maßlosigkeit auf der einen Seite, aber auch welche Hilflosigkeit und Ohnmacht eines Staates werden deutlich, wenn eine Ratingagentur - wie jüngst geschehen - Deutschland Auflagen macht. Wer bestimmt die Richtlinien der Politik in diesem Land?

Des Weiteren muss in dem fortschreitenden europäischen Integrationsprozess nachgefragt werden, ob durch die Schwächung der Mitglieder über Privatisierung und Wettbewerb nicht diesen und der Gemeinschaft ein Bärendienst erwiesen und der Integrationsprozess insoweit problematisch wird, weil die Gemeinschaft den Substanzverlust bei den Mitgliedstaaten durch den Zwang zur Privatisierung und die Eröffnung von Wettbewerb auf der Gemeinschaftsebene nicht ausgleichen kann. Der Umstand, dass die für eine Privatisierung vorgesehenen Bereiche in der Regel europaweit ausgeschrieben werden müssen, ist nicht das zentrale Problem. Die Privatisierung als solche ist das Problem.

Die Fragestellung lautet unmissverständlich: Welche Bereiche der staatlichen Aufgabenwahrnehmung dürfen vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Bindungen privater Wahrnehmung überantwortet werden und welche nicht? Aus einer verfassungsrechtlichen Gesamtschau: nichts was den Staat in Frage stellt und seine Souveränität beeinträchtigt oder beschränkt. Diese Prüfsteine gelten wegen des staatlichen Gewaltmonopols für die gesamte Gefahrenabwehr und wegen des Sozialstaatsprinzips für die elementaren Bereiche der Daseinsvorsorge.

Es fehlt nicht an alternativen, angemessenen und effektiven Lösungen: Öffentliche Aufgaben dürfen nicht privatisiert werden, wie es in der bisher üblichen Form geschieht. Vielmehr müssen alle diese Aufgaben, angefangen vom Bau von Straßen, den Tätigkeitsfeldern der Deutschen Post und der Deutschen Bahn, aber auch die Versorgung mit Energie in instaatlicher Obhut befindliche Fonds eingebracht werden. Das hätte mancherlei Vorteile, vor allem für den Staat selbst und seinen Haushalt - wie das Haushaltsdefizit und das ständige Verfehlen der Ziele des EU Stabilitätspakts belegen - wie auch für die ihm anvertrauten Menschen.

Mit dem Einbringen öffentlicher Aufgaben in solche Fonds behält der Staat seine Handlungsfähigkeit und seine Souveränität. Er liefert sich nicht anonymen, nicht zu kontrollierenden Kräften aus. Zugleich schafft der Staat damit die werthaltigen, auch in der Zukunft noch bestehenden Anlageobjekte (Gegenbeispiele: kränkelnde Immobilienfonds), die für die Entwicklung einer tragfähigen privaten Altersvorsorge dringend benötigt werden. Offenbar reichen Börsencrash und der durch mangelnde Nachfrage und Leerstand bedingte Verfall der Industrie- und Gewerbemieten noch nicht aus, damit hier ein Umdenken eintritt. Es ist vor dem gegebenen Verfassungshintergrund zwar nicht unzulässig, gleichwohl aber sehr bedenklich, private Altersvorsorge zu fordern und zu fördern, wenn der Staat selbst nicht in der Lage ist, geeignete Anlageobjekte zur Verfügung zu stellen. Die Lebensversicherer haben die Rendite senken müssen und viele, die verantwortungsvoll schon selbst Vorsorge, etwa über Mietobjekte oder Aktien getroffen hatten, stehen vor dem Nichts.

 


Siegfried Broß

Der Autor, am 18. Juli 1946 in Stuttgart geboren, war nach dem Studium in München Richter am dortigen Verwaltungsgericht. Nach Zwischenstationen beim Landratsamt Mühldorf und in der Rechtsabteilung der bayerischen Staatskanzlei war er von 1981 bis 1986 Richter am Bayerischen Verwaltungsgerichtshof und in den Jahren von 1986 bis 1998 am Bundesgerichtshof. Seit 1998 ist Broß Richter am Bundesverfassungsgericht. Dort ist er als Mitglied des Zweiten Senats unter anderem für das Europarecht zuständig. Seit 2002 ist Broß zudem Honorarprofessor an der Universität Freiburg. Siegfried Broß gilt als eigenständiger Jurist mit konservativen Grundüberzeugungen. Er hat sich einmal selbst als der Union nahe stehend bezeichnet.StZ

 

 

Zurück zur Startseite

 



  2005 by wd team stuttgart      xxl sicherheit